Ausgabe 6/2009
Ausschnitt aus dem Artikel
Wenn Senioren ins Rampenlicht treten
von Gallus Keel
Szenenwechsel! Das von der Stadt Zürich geführte Altersheim Sydefädeli fällt oft aus dem Rahmen. Positiv. So hat es den einzigen
Altersheimchor der Schweiz, der regelmässig an die Öffentlichkeit geht. Der aus 70-bis 95-Jährigen bestehende Sydefädeli-Chor trat letzten
Winter sogar dreimal in der Zürcher Maag Event Hall auf. Gemeinsam mit dem Buena Vista Social Club! – jenen weltberühmten quirligen
alten Musikern aus Havanna.
Dabei fetzte es nur so. ‹Die Kubaner kamen sogar ins Sydefädeli auf Besuch›, begeistert sich Barb Streuli und sagt dann: ‹Ja, ich suche solche
Altersheime, die ein bisschen speziell sind.› Und den Heimleitungen macht es die Kulturmanagerin dann schmackhaft, mit den Bewohnern ein
Theater auf die Bühne zu stellen. Silbertheater nennt sich ihr Einfrau-Unternehmen. Auch im Sydefädeli fiel ihr Vorschlag auf fruchtbaren Boden.
Vier Frauen und zwei Männer aus den Jahrgängen 1915 bis 1919 sind in diesen Wochen dort am Proben für die Theaterpremiere am 13. Juni.
Dann feiert das Sydefädeli sein 25-jähriges Bestehen, und man möchte halt nicht nur Reden hören, sondern Eigenes zeigen.
‹Was diese Menschen an Kreativität bringen, ist unglaublich›, sagt Barb Streuli, die jede Woche einen Vormittag mit ihren Schützlingen
arbeitet. Die sechs Senioren haben ihr Stück im Kern selber kreiert, die frühere Berufsballett
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tänzerin mit Theaterausbildung hat das
Erar
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beitete bühnenreif inszeniert. Zu älteren Men
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schen hat Streuli einen guten Draht, seit sie als Projektleiterin für Bewegung und Sport von
Pro Senectute Kanton Zürich das 40-Jahr-Jubiläum organisierte. Als Seminarleiterin arbeitet sie ausserdem für Avantage, eine Serviceleistung
von Pro Senectute. Es geht darum, Menschen auf die Pensionierung vorzubereiten.
Fiktive Zugfahrt durch die Vergangenheit
Das Theaterstück der Sydefädeler spielt ganz altersgerecht in einem Zugabteil. Die Kulisse ist die Idee des 94-jährigen Albert Wiesmer. Der
frühere Lokführer ist nicht mehr gut auf den Beinen, er bevorzugt eine sitzende Rolle. So kommt man, aus dem Fenster schauend, ins Reden
und erinnert sich auf der fiktiven Fahrt an Vergangenes wie die Seegfrörni, eine Schulreise oder an die Badi, wo Mädchen und Buben noch
getrennt waren. Es wird gesungen, gejodelt und Mulörgeli gespielt. Noch ohne Kulisse büffelt das Sextett am Tisch zum x-ten Mal seine
Textpassagen. ‹In unserem Alter ist es lebensgefährlich, so viel auswendig zu lernen›, scherzt Wiesmer, ‹es ist eine Höchstanforderung. Ich habe
jedenfalls das Gefühl, ich sei gescheiter geworden, seit ich hier mitmache.› Alle lachen, vor allem die Damen.
Wiesmer erzählt, dass er lange auf Dampflokomotiven gefahren sei, ‹die Nebenstrecken waren ja noch nicht elektrifiziert›. Selbst mit
elektrischen Loks sei er aber nie schneller als 125 Stundenkilometer gefahren. Tempi passati! Wenn der 94-Jährige in die Gegenwart
zurückkehrt und sagt: ‹Uf jede Fall hends mir do immer luschtig›, stimmt ihm die fidele Runde lauthals zu. Und zärtlich legt er die Hand auf
den Arm seiner Nachbarin. Beim alltäglichen gemeinsamen Einüben des Textes ist man sich nähergekommen. Liebe kennt kein Alter. Und das
Theater schafft gute Gelegenheiten.